Rede zum 70. Jahrestag des 17. Juni 1953

Liebe Anwesende,

wir erinnern uns heute an ein Ereignis, das sich vor genau 70 Jahre in der damaligen DDR abgespielt hat. Drei Fragen stellen sich dazu.

Erstens: Woran erinnern wir?

Vor genau 70 Jahren gingen Hunderttausende von Menschen in Hunderten von Städten und selbst kleineren Ortschaften der damaligen DDR mehr oder weniger spontan auf die Straße, um für Meinungsfreiheit, für freie Wahlen, für eine Ende der SED-Diktatur und für die Einheit Deutschlands zu protestieren.

Vorausgegangen war die Bekanntgabe einer Normerhöhung, durch die die Arbeiter auf den Baustellen und in den Werkhallen des Landes für die gleiche Leistung weniger Lohn erhalten hätten. Am 16. Juli kam es daraufhin zu spontanen Streiks, denen sich insbesondere die Arbeiter der Stalinallee in Berlin anschlossen. Sie war ein Prestigeobjekt der SED, mit dem die Überlegenheit des Sozialismus demonstriert werden sollte. Die Rücknahme der Normerhöhungen noch am gleichen Tat beruhigte die Demonstranten aber nicht. Am nächsten Tag schlossen sich ihnen überall in der DDR die mit der SED-Herrschaft Unzufriedenen an. Sie forderten jetzt die Freilassung politischer Gefangener, den Rücktritt der Regierung und den Abzug der sowjetischen Besatzungsmacht. Sie machten deutlich, dass die SED, die mit dem Anspruch angetreten war, einen antifaschistischen demokratischen Staat aufzubauen und den Faschismus „mit Stumpf und Stiel“ auszurotten, die aber statt dessen eine stalinistische Parteidiktatur errichtet hatte, dass diese SED nicht die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hatte.

Die SED-Staatsführung und die von ihr gerufene sowjetische Besatzungsmacht reagierten mit aller Härte. Sowjetische Panzer fuhren auf, die Demonstrationen wurden aufgelöst, Aktivisten – wie immer bei solchen den Herrschenden gefährlichen Anlässen „Rädelsführer“ genannt – wurden verhaftet. Der beeindruckende Zeitzeugenbericht von Hardy Firl, den wir eben gehört haben, hat deutlich gemacht, was das für die Betroffenen bedeutete. Während der Proteste, durch Standgerichte und anschließend durch Gerichtsurteile wurden mindestens 55 der Demonstrierenden ermordet. Etwa 1500 weitere wurden wie Hardy Firl zu meist langjährigen Haftstrafen verurteilt. Durch systematische Unterdrückung und Überwachung sicherte sich das Regime gegen ähnliche Aufstandsbewegungen ab. Bertolt Brecht, der aus dem amerikanischen Exil mit der Hoffnung zurückgekehrt war, dass sich die DDR zu einem demokratischen und sozialistischen Staat entwickeln würde, schrieb zu den Vorgängen das Gedicht „Die Lösung“:

Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?

Die zweite Frage ist: Warum erinnern wir uns hier im Lina-Hilger-Gymnasium?

Eigentlich ist sie leicht zu beantworten: Vor dieser Schule steht das einzige Denkmal, das auch jenseits von Jahrestagen an diese Ereignisse erinnern soll. Eingeweiht wurde es am 17. Juni 1960 vor dem damals neuen Schulgebäude des Lina-Hilger-Gymnasiums. Vorausgegangen war ein Schweigemarsch von mehreren Tausend „Sowjetzonenflüchtlingen“, wie es im damaligen Sprachgebrauch der Öffentliche Anzeiger meldete. Hauptredner war der damalige rheinland-pfälzische Ministerpräsident Peter Altmeier. Es sollte im Sinne der damaligen Präambel des Grundgesetzes – Zitat: „Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“ –  daran erinnern, dass die Bürgerinnen und Bürger in dem anderen deutschen Staat – damals hieß er noch SBZ (Sowjetische Besatzungszone) oder kurz „die Zone“ – von den demokratischen Freiheiten der Bundesrepublik ausgeschlossen waren und dass das Ziel der Wiedervereinigung nicht aus den Augen verloren werden sollte.

Die durch das Denkmal zum Erinnern aufgeforderten Bürgerinnen und Bürger Bad Kreuznachs und allgemein West-Deutschlands gewöhnten sich allerdings mehr und mehr an den Zustand der Teilung. Durch die Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt seit 1969 wurde sie – insbesondere für Bundesbürgerinnen und -bürger – auch erträglicher, und so fiel das Denkmal allmählich in einen Dornröschenschlaf. Die Erwartung, die der Ministerpräsident in seiner Rede formulierte, dass die Bürger der Stadt „von nun an Tag für Tag an diesem Stein vorüberschreiten und immer wieder an das erinnert werden, was sich an diesem denkwürdigen und zugleich schmerzlichen 17. Juni 1953 begab“, diese Erwartung erfüllte sich allenfalls bedingt. Die Hecke am Rande des Schulgeländes wuchs höher und höher und entzog das sowieso schon eher unscheinbare Denkmal den Blicken der Passanten. Wann genau das passierte, entzieht sich meiner Kenntnis, aber als ich hier 1992 an die Schule kam, sah es bereits ähnlich wie heute aus. Inzwischen dürften selbst die meisten Kolleginnen und Kollegen des Lina-Hilger-Gymnasiums nicht mehr gewusst haben, dass es dieses Denkmal überhaupt gibt, jedenfalls bevor das Kollegium über die heutige Veranstaltung informiert wurde. Nicht viel anders sieht es bei den Schülerinnen und Schülern aus, auch wenn ich mit meinen Lerngruppen in den letzten Jahren regelmäßig bei der Behandlung der Nachkriegszeit dort gestanden habe.

Die dritte und vielleicht wichtigste Frage ist: Warum erinnern wir uns heute an den 17. Juni 1953?

Natürlich geht es zunächst einmal um das Gedenken an die Opfer des Aufstandes.  Weiter wäre aber auch zu fragen: Was ist der heutige Wert eines solchen Gedenkens, eines Erinnerns an ein 70 Jahre zurückliegendes Ereignis? Die von vielen Demonstrantinnen und Demonstranten damals geforderte Einheit ist bereits über 30 Jahre Realität, die Forderungen von damals sind erfüllt. Ich meine: Wenn wir uns heute an den 17. Juni 1953 erinnern, dann in erster Linie, um die Bedeutung von Demonstrationen und des Demonstrationsrechts als ein Kernstück jeder Demokratie ins Bewusstsein zu rücken. Nicht nur Wahlen gehören zum demokratischen Prozess, sondern eben auch die Möglichkeit für Bürgerinnen und Bürger, ihre Anliegen auf diese Weise auf die Straße und in die Öffentlichkeit zu tragen. Diktaturen ertragen keine Proteste, keine Demonstrationen, sei es in Belarus, im Iran, in Russland. Die Montagsdemonstrationen der „Friedlichen Revolution“ im Jahr 1989 waren es denn auch, die das SED-Regime in der DDR zu Fall gebracht und die Einheit Deutschlands ermöglicht haben. Auch in Demokratien sind sie Demonstrationen und Proteste oft unbequem, müssen es auch sein, um Wirkung zu entfalten. Bisweilen gehen sie an die Grenzen des Legalen, bisweilen überschreiten sie sie sogar wie derzeit im Fall der „Letzten Generation“. Diese jungen Menschen übertreten in ihrer Verzweiflung über die Halbherzigkeiten bei dem Versuch, die drohende Klimakatastrophe zu vermeiden, bewusst Gesetze. Sie sind bereit, die dafür drohenden Strafen auf sich zu nehmen. Die Bestrebungen, sie zu Mitgliedern einer kriminellen Vereinigung zu erklären, haben mich, während ich mir Gedanken über die heutige Bedeutung des 17. Juni gemacht habe, wirklich schockiert. Auch die Tatsache, dass hier wieder nach „Rädelsführern“ gesucht wird. Wie auch immer man zu den Aktionen der „Letzten Generation“ steht, ob man sie für unangemessen, vielleicht sogar kontraproduktiv hält, in einer Demokratie sollten Demonstrantinnen und Demonstranten nicht zu Kriminellen erklärt werden, wie das mit den Akteuren des 17. Juni 1953 in der DDR geschehen ist.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!