Lina Hilger

Ich bin Lina Hilger. Ich wurde am 8. März 1874 in Kaiserslautern geboren. Meinen Eltern war meine Bildung damals schon sehr wichtig, eine große Besonderheit, da der Bildungsweg der allermeisten jungen Frauen in meiner Generation ein kurzer war: Spätestens mit 16 Jahren war selbst für privilegierte Mädchen Schluss, die sich dann als „gefällige Gattinnen“ oder „geschickte Hausfrauen“ verdingen konnten. Darüber, diese Einbahnstraße nicht einschlagen zu müssen, war ich sehr froh, denn es eröffnete mir zumindest ein wenig mehr Freiheit. Ich durfte also auf eine private Mädchenschule in Bad Kreuznach gehen, wo ich meine Reifeprüfung ablegte. Von dort hatte man als Frau erneut nicht gerade die große Auswahl: Der Bildungsweg am Lehrerinnenseminar war tatsächlich eine der wenigen Optionen, sich in beruflicher Hinsicht weiter zu qualifizieren – und diese ergriff ich. In Koblenz bestand ich 1893 die Lehrerinnenprüfung für höhere und mittlere Mädchenschulen. Mein Horizont erweiterte sich ungemein in meiner darauffolgenden Bonner Zeit; es ergaben sich sogar Auslandsaufenthalte in England und Frankreich, und ich konnte an der Universität als Gasthörerin pädagogische Kurse besuchen. Was sich dort für mich 1899 eröffnete, würdet ihr vielleicht heute als Empowerment oder Feminismus bezeichnen: Ich gründete nämlich mit anderen Frauen dort den „Club der Namenlosen“, der eine der ersten Studentinnenverbindung war, eine Verbindung nur für Frauen – das war etwas vollkommen Neues! Im Grunde lieferten diese Netzwerke die Basis für weitere akademische Möglichkeiten für Frauen, die im universitären Leben bisher noch so gut wie keine Rolle spielten, und setzten den übermächtig repräsentierten Männern auch erstmals etwas Organisiertes entgegen.

Berufsleben

Nachdem ich zwei Jahre später, 1901, in Bonn als Lehrerin angefangen hatte, dauerte es nicht lange, bis ich an meinen früheren Wohnort, Bad Kreuznach, zurückbeordert wurde: Dort hatte man für mich die Leitung der städtischen Mädchenschule vorgesehen – da war ich gerade mal 29 Jahre alt. Es war für mich eine Zeit, in der ich meine pädagogische Selbstwirksamkeit voll entfalten konnte. Ich hatte das Gefühl, lange Jahre so viel Bedeutsames für die jungen Frauen tun zu können, die meine Schule besuchten, indem ich meiner Vision folgte. Ich wollte die Umgebung dafür schaffen, dass sich junge Menschen zu inspirierten Persönlichkeiten, die mit beiden Beinen im Leben stehen, entwickeln konnten. Vor allem in den 1920ern arbeitete ich darauf hin, meinen Absolventinnen auch eine vollwertige Hochschulreife zu ermöglichen, damit der Weg, den ich gehen konnte, kein Glücksfall mehr sein muss.

Die NS-Zeit

So richtig und fortschrittlich sich auch unser Kreuznacher Mikrokosmos in der Schule anfühlte, so beklemmend waren aber die politischen Entwicklungen, die sich mit der zunehmenden Erstarkung der Nationalsozialisten bis hin zur so genannten „Machtergreifung“ um uns herum abspielten. Das fand seine Zuspitzung in einer Bücherverbrennung, die die Hitlerjugend am 19. Mai 1933 im Schulhof veranstaltete. Meine Erschütterung war grenzenlos. Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen, wusste schon Heinrich Heine. Ich fühlte förmlich, wie er Recht behalten wird. Ich finde, es spricht für mich, dass ich der nationalsozialistischen Kreisleitung schon einige Zeit vorher negativ aufgefallen war. Sie wollten mich wegen antinationalsozialistischer Gesinnung loswerden. Ich setzte dem noch meinen eigenen Antrag auf vorzeitige Entlassung in den Ruhestand entgegen, dem auch stattgegeben wurde. Meine Karriere als Lehrerin und Schulleiterin endete damit. Es gab für mich in einer faschistischen, gleichgeschalteten Gesellschaft, bei aller emanzipatorischen Energie, die ich um die Jahrhundertwende getankt hatte, keinen pädagogischen Wirkungsraum mehr. Ich starb am 13. April 1942 an Krebs. Die Krankheit war vielleicht ein Ausdruck der Trauer darüber, dass Hass, Ausgrenzung und Rohheit meine Arbeit unmöglich gemacht oder sogar bisher hart Erkämpftes zerstört haben. Wer weiß…

Ich bin Lina Hilger. Ich bin niemand, der überall bekannt ist. Ich bin keine berühmte Widerstandskämpferin, sondern eine Frau, die immer authentisch zu dem stand, was sie dachte. Ich habe Rückgrat. Wenn euch eine befreundete Person aus Mainz, Stuttgart, Trier, Berlin oder woher auch immer fragt, wer das denn sei, nach deren Name eure Schule benannt ist, dann will diese Person sicher wissen, wofür eure Schule steht. Ihr könnt ihr antworten, dass Lina Hilger wichtig war, allen Menschen die gleichen Chancen auf Bildung zu geben, dass gerade Menschen, denen Bildung nicht selbstverständlich offen steht, sich nicht ihre Grenzen von denen diktieren lassen sollen, die scheinbar das Sagen haben, dass die Allgemeinbildung zu einem selbstständigen Geist führt und damit Freiheit bedeutet. Dazu gehört vor allem auch der musische Zweig. Musik und Kunst gehören essenziell zur humanistischen Bildung; wir können unserem Inneren durch die Künste Ausdruck verleihen, und das schafft Verbindung und Güte zwischen den Menschen statt Trennung, Hass und Gewalt. Humanismus heißt Menschlichkeit; jeder soll sich entfalten und verwirklichen können in der Schule, die nach mir benannt ist.